Beziehungs/Weise

4-Tage-Woche: Zukunftsmodell oder Utopie?

von Tomá Ivanov
09. 03. 2023
Lesezeit: 4 Minuten

Eine Studie aus Großbritannien hat die hitzige Diskussion um eine 4-Tage-Woche aufs Neue entfacht. Während Befürworter:innen fest davon überzeugt sind, dass der Acht-Stunden-Tag beziehungsweise die 40-Stunden-Woche ausgedient hat, hält die Gegenseite die 4-Tage-Woche für fernab jeder Realität und prophezeit ein wirtschaftliches Desaster.

Fakt ist: Die Debatte um die verkürzte Arbeitswoche ist nicht einfach auf eine Pro und Kontra Analyse reduzierbar – es stellt unser bisheriges System grundlegend in Frage und bringt so manche Themen, die unter den Teppich gekehrt wurden, wieder an die Oberfläche.

Alles andere als begeistert von der verkürzten Arbeitszeit zeigt sich der österreichische Wirtschaftsbund: „Die 4-Tage-Woche ist eine Schmähpartie, ihre Umsetzung wäre der Todesstoß für unseren Sozialstaat und unseren Wohlstand. Da helfen auch keine schwindligen Studien“, wettert der Wirtschaftsbund Generalsekretär Kurt Egger. 220.000 Vollzeit-Arbeitskräfte würden laut Egger bei einer potenziellen Einführung der 4-Tage-Woche fehlen. Doch entspricht diese Rechnung der Wirklichkeit?

Ausgleich durch Produktivitäts­gewinn als Argument

Dass die Vier-Tage-Woche nicht ganz so realitätsfern sein kann, beweist unter anderem die Tatsache, dass das Modell in Ländern wie Skandinavien und Großbritannien ja tatsächlich bereits Realität ist. Zudem wurde in der oben genannten Studie – die bislang größte Erhebung weltweit – die 4-Tage-Woche bei 61 britischen Unternehmen getestet. Die Ergebnisse in puncto Mitarbeiterzufriedenheit und Motivation sind nichts weniger als beachtlich, aber das ist nicht alles: Auch die Fehltage sanken beträchtlich.

  • 65 % weniger Krankheitstage
  • 39 % weniger Stressbelastung
  • 57 % weniger Fluktuation
  • 71 % weniger Burn-Out-Erkrankungen

Bei solchen Resultaten ist es wenig verwunderlich, dass von den 61 Unternehmen insgesamt 56 das Modell beibehalten wollen – bedeutet konkret: Gleicher Lohn bei nur 80 Prozent der Arbeitszeit. Doch selbst wenn die 20 Prozent Zeitverlust durch einen Produktionszuwachs ausgeglichen werden könnten, bleibt die Frage bestehen: Ist das Modell gesamtwirtschaftlich anwendbar und überlebensfähig?

Probleme und Fachkräftemangel in vielen Branchen

Zweifel an der Realisierbarkeit über alle Berufssparten hinweg sind nicht ganz unberechtigt: „Inwiefern wird eine Krankenschwester, ein Polizist oder ein LKW-Fahrer produktiver, wenn sie 32 statt 40 Stunden arbeiten?“, fragt Wirtschaftsbund-Generalsekretär Egger. „Die gleiche Arbeit in weniger Zeit bedeutet für die meisten Mitarbeiter vor allem mehr Stress und nicht höhere Produktivität.“ Tatsächlich bewegen sich viele Berufssparten, wie beispielsweise Pflegeberufe, bereits an ihrem Produktivitätslimit. An diesem Punkt offenbart sich zudem ein grundlegendes Dilemma des derzeitigen Wirtschaftssystems, an dem Befürworter:innen sowie Gegner:innen vorbeizureden scheinen.

Brauchen wir wirklich noch mehr Produktivität? Müssen wir wirklich die Idee vom unbegrenzten Wachstum bis zum kollektiven Burnout über alle Lebensbereiche stülpen?

Brauchen wir noch mehr geheime Neuwagen-Friedhöfe in Lateinamerika, mit welchen Autohersteller ihre Verkaufsstatistiken beschönigen und eine nicht rentable Überproduktion verstecken – alles nur fürs ewige Wachstum, der Endzweck, der alle Mittel heiligt? Längst ist klar, dass wir mit diesem Hochgeschwindigkeitsvehikel, das unsere derzeitige Wirtschaft ist, ökologisch, demografisch und psychologisch auf eine Wand zusteuern. Wir sind unfähig, stehen zu bleiben, geschweige denn umzudrehen – die 4-Tage-Woche ist aber zumindest ein Versuch, das Tempo zu drosseln. Es ist ein symbolischer, korrektiver Schritt in Richtung: Die Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht umgekehrt.

Ein Modell für privilegierte Berufsschichten?

Die 4-Tage-Woche kann funktionieren, wenn sie nicht einfach als Forderung privilegierter Branchen durchgeboxt wird, ohne dabei die Herausforderungen für Berufsgruppen, die bereits am Produktivitätsmaximum arbeiten, zu adressieren. Eine gesetzliche Einführung muss die Ungleichgewichte und Herausforderungen der unterschiedlichen Branchen zu kompensieren verstehen, ansonsten ist sie in der Tat utopisch. Die Frage ist legitim: Warum sollte die Entscheidung über eine 4-Tage-Woche nicht auch dem einzelnen Unternehmen überlassen lassen sein? Wo das Modell umsetzbar und rentabel ist, kann man mit gutem Beispiel vorangehen, ohne ein staatlich erzwungenes „sink or swim“.

Eins ist jedenfalls klar: Die Debatte über die 4-Tage-Woche stellt viele Fragen, auf die es bislang noch keine zufriedenstellenden Antworten gibt.

Denn was wir definitiv nicht brauchen, ist eine gesetzlich aufoktroyierte Produktivitätssteigerung in Berufen, wo auch bei noch so viel Anstrengung keine mehr zu holen ist. Noch weniger brauchen wir weitere konsumbezogene Bequemlichkeiten auf Kosten von Amazon-Mitarbeiter:innen, denen die WC-Pause zur genannten Produktivitätssteigerung gestrichen wird. Was wir aber sehr dringend benötigen, ist mehr Wertschätzung – ideologisch wie auch monetär – für jene gleichermaßen systemrelevanten wie kaputt gesparten Berufe, denen wir den Zusammenhalt unserer Gesellschaft verdanken: Pflegeberufe, Lehrkräfte und viele mehr.

Solche Problemstellungen müssen in die Debatte miteinfließen. Die 4-Tage-Woche wäre sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung, sie muss sich aber auch für alle lohnen.

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